Ich zweifle zunehmend an der Struktur unseres Schulsystems, an den zu vermittelnden Lern- inhalten, an der Verortung von Schule in viel zu engen Gebäuden, an dem Lernen an der Abbildung der Welt in Lehrmitteln. Kinder und Jugendliche lernen sehr schnell Dinge, die sie wirklich interessieren, während es mir als Mathematiklehrer schwerfällt ihnen die Frage zu beantworten, warum sie schriftliche Rechenverfahren lernen müssen in Zeiten, in der das Smartphone als Minicomputer allzeit verfügbar ist. Meine Antworten sind konstruiert, komplex und verweisen auf eine Notwendigkeit im Fortschreiten des Mathematikunterrichts. So gelange ich immer mehr zu der Ansicht: Didaktische Kommissionen, Lehrplan-Kommissionen, Fachleiter*innen an Schulen und in der Lehrer*innenausbildung und Lehrer*innen wissen immer weniger, was Kinder und Jugendliche sinnvollerweise lernen sollen.
Meine Hypothese: Kinder – und Jugendliche lernen immer mehr und schneller außerhalb der Schule, allerdings nicht unbedingt das, was in Lehrplänen als notwendig bestimmt wird. In bestimmten Bereichen hecheln wir Lehrpersonen hoffnungslos Trends und Entwicklungen hinterher. Die Nutzung von Facebook als Socialmedia-Plattform löst bei Jugendlichen herzhaftes Gähnen aus, Kinder sind inzwischen von Instagram über Snapchat nach TikTok weitergezogen, wahrscheinlich stehen die nächsten Plattformen schon in den Startlöchern. In den Zeiten des Lockdowns haben mir Schüler*innen provozierend mitgeteilt das Lehrer Müller, Mayer oder Schulze auf youtube Mathematik viel besser erklären kann als ich. Ich habe es freudig zur Kenntnis genommen und nun die Erklärvideos zusätzlich zu meinen Erkläransätzen auf unsere Lernplattform hochgeladen.
Ist Selbstlernen und Selbstbildung die Zukunft? Andrè Stern, der selbst nie eine Schule besucht hat, ist Musiker, Komponist, Gitarrenbaumeister, Journalist und Autor. In seinem Buch „… und ich war nie in der Schule“ (Stern, 2009) beschreibt er seine glückliche von großer Begeisterung und Neugier geprägte Kindheit in Form einer chronologischen Selbstbildungs- und Selbstlernbiografie. Nach der Lektüre ist mir klar, dass seine schulfreie Kindheit und Jugend deshalb so gut funktioniert hat, weil er ein überaus freilassendes, aber auch unterstützendes Elternhaus hatte. Er konnte immer seinen Neigungen folgen und fand aber auch im Umfeld Personen, die ihm weiterhelfen konnten. Wenngleich Stern in dieser autobiografischen Schrift ein Ideal beschreibt, können seine Gedanken zur kindlichen Motivation und Begeisterungsfähigkeit Lehrpersonen eine Anregung sein, Kindern und Jugendlichen Partizipation an der Festlegung von Lerninhalten zu ermöglichen. Der Weg wäre dann frei zu einer Umdefinition der Lehrer*innenrolle hin zu einer echten Lernpartnerschaft. Die Zusammenarbeit mit Künstler*innen bietet Lehrer*innen eine große Chance den Lernbedürfnissen der Schüler*innen zu folgen, weil diese in ihrer Begeisterung und Motivation dem von Stern beschriebenen Zustand am nächsten kommen.